Wahlrechtsreform: Plädoyer für das "Grabensystem"

von Dr. Christian Naundorf

Nachdem Dr. Naundorf sich schon in seinen prä-juristischen Zeiten, mehr aus mathematisch-stochastischer als aus rechtlicher Perspektive, mit dem deutschen Wahlrecht befaßt hatte, s. dazu ganz unten auf der Veröffentlichungen-Seite - die beiden ältesten Einträge überhaupt -, schaltet er sich nun erneut in die Diskussion ein, nachdem die Lage seit Jahren völlig verfahren ist: alle wissen, dass es "so" nicht weitergehen kann; alle wissen, dass der Bundestag sich weiter aufblähen wird, wenn nicht gegengesteuert wird; aber keine parteiübergreifende Mehrheit kommt zu Stande, die das nachhaltig sinnvoll ändern könnte.

Also muss eine Reform her, die "radikal" ist - heißt: das Problem "an der Wurzel" (Radix) packt -, und dazu gibt es einen Weg, der im Ergebnis radikal, in der Durchführung und Umsetzung aber ganz unscheinbar und ganz einfach ist, und der breiten Bevölkerung noch nicht einmal das Gefühl gibt, es hätte sich irgend etwas Wesentliches geändert ... Das ist das sog. Grabensystem.

Heißt was? Heißt, dass die Hälfte der Sitze über die Erststimme, die andere Hälfte über die Zweitstimme vergeben wird. Einfach - oder?

Wie bitte? Was sagten Sie eben? Sie haben gedacht, das wäre ohnehin so? Siehste - eben! ... Aber denkste, von wegen! So ist es nämlich nicht; und genau das war und ist das, durch Nichtstun weiter anwachsende, Problem.

 

Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl) Heft 4/2020, S. 927 f.

 

Nachtrag: Zum enormen Staunen von RACN konnte der Gesetzgeber tatsächlich eine am 13. Juni 2023 ins Bundesgesetzblatt eingerückte Änderung zustande bringen, die weitaus besser ist als das "Grabensystem" - nämlich, und weitaus rechtzeitig zur Wahl von 2025, das Prinzip der "Zweitstimmendeckung" einführt (BGBl. I Nr. 147). Das heißt: der ohnehin auf den Wahlzetteln schon lange proklamierte "maßgebliche Einfluss" der Zweitstimme auf das Gesamtergebnis wird behutsam gestärkt und damit vom Programmsatz (= Lippenbekenntnis) zur Realität, die Inkonsistenzen zwischen "Wahlkreissiegern" und den Ergebnissen "ihrer" Landeslisten (oder -verbindungen) entfallen, damit auch die Überhang- und damit auch deren Ausgleichs-Mandate.

Dass der bayrische Teil der C-Parteien-Fraktionsgemeinschaft darüber jault, ist hinzunehmen, weil es sich nur um die Abschaffung einer beträchtlich machtanteils-erhöhenden Systemwidrigkeit handelt, die Reform die Wahlrechtsgleichheit also nicht senkt, sondern erhöht. Präziser: immer und nur am Wahltag tun CDU und CSU so, als wären sie zwei Parteien, an allen anderen Tagen aber lassen sie sich wie eine behandeln; was zu einer permanenten Besserstellung sowohl ggü. echten Regionalparteien als auch aber ggü. Parteien mit 16 echten Landeslisten führte. Denn die CSU besetzt(e) permanent 90 % aller bayrischen Sitze mit 50 % der in Bayern errungenen Stimmanteile, was eigentümlicherweise jahrzehntelang niemanden gestört hat. Nun wird man sich halt mal zwischen "Regionalpartei" und "bayrischer Landesverband der CDU" entscheiden müssen ...

Für das Grabensystem hatte Dr. Naundorf sich nicht etwa ausgesprochen, weil er es so toll findet, sondern weil er der parlamentarischen Mehrheit den politischen Kraftakt einer nur einfach-mehrheitlichen Abschaffung des Problems der Bundestags-Aufblähung (gegen das o. g. Besitzstandswahrungs-Gejaul der "garantierten bayrischen Zusatz-Sitze") nicht zugetraut hatte. Man sollte die alte Tante Gesetzgeberin eben doch nie unterschätzen ... bisweilen ist sie besser als ihr Ruf. Jetzt sollten nur noch die Wähler:innen ihr Wahlrecht auch beherzt ausüben, denn entgegen häufig gehörtem dumpfem Vorurteil verändern Wahlen sehr wohl die Gestalt des Zusammenlebens! - Nichtwählen freilich auch; denn nicht genutzte Gestaltungsfreiheit verfällt, so wie nicht genutzte Muskeln verkümmern, oder ein Vakuum - wie schon die Antike wußte - nie lange Bestand behält, ein physikalisches so wenig wie ein Macht-Vakuum:

Wer nicht mitbestimmt, wer die demokratischen Teilhaberechte nicht nutzt, wird über kurz oder lang fremdbestimmt.